Foto: Yuliia Perekopaiko/DFB
Nia Künzer ist seit 2024 Sportdirektorin des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und verantwortet die sportliche Entwicklung der Frauen-Nationalmannschaften. Im Interview betont sie die Bedeutung von Authentizität, Vertrauen und Teamgeist als zentrale Werte des deutschen Frauenfußballs. Künzer spricht über den Kulturwandel im Verband, neue Führungsstrukturen und die strategische Erneuerung des DFB, mit Fokus auf nachhaltige Entwicklung und Nachwuchsförderung.
Frau Künzer, in Ihrem Buch, das im Juni 2023 erschienen ist, schreiben Sie, dass Frauen den „besseren Fußball“ spielen, weil er authentischer, ehrlicher und näher am Sport geblieben ist. Hat sich dieses Bild aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren verändert?
Der Titel des Buches ist natürlich zugespitzt und verkürzt wiedergegeben worden. Mein Punkt, auf den ich hinweisen wollte: Im Fußball der Frauen wirken andere Mechanismen. Die Spielerinnen im Frauenfußball treten auf und neben dem Platz authentisch auf. Es ist so, dass sich die Art zu Spielen anders darstellt und auch die Art der Kommunikation auf dem Platz nicht nach den gleichen Mustern wie bei den Männern funktioniert.
Grundsätzlich finde ich schon, dass wir es bislang geschafft haben, die zentralen Werte, die uns auszeichnen, trotz gestiegener Sichtbarkeit, Reichweite und Bedeutung, zu bewahren: Nämlich die Nahbarkeit, Bodenständigkeit und Authentizität. Der Stadionbesuch bei einem Frauenspiel bleibt ein familienfreundliches Erlebnis, im Frauenfußball zählen Diversität und Offenheit zur DNA. So war es die vergangenen Jahre und so wird es hoffentlich noch lange bleiben.
Viele verbinden Sie bis heute mit dem Golden Goal im WM-Finale 2003. Wenn Sie diesen Moment mit etwas Abstand betrachten: was hat er für Sie persönlich und für die Wahrnehmung des Frauenfußballs in Deutschland tatsächlich verändert?
Vieles. Für mich persönlich und meine Laufbahn im Sport war das Golden Goal ein Gamechanger, weil es natürlich sehr aufmerksamkeitsstark war und bis heute ist. Für unseren Sport war es ein wichtiger Meilenstein, da wir unter anderem über die TV-Liveübertragung ein Millionenpublikum erreicht haben. Die Dramaturgie des Spiels, der komplette Turnierverlauf und der dramatische Titelgewinn haben unserem Sport Rückenwind gegeben. Viele Menschen haben Frauenfußball damals zum ersten Mal bewusst erlebt und sind dann anschließend auch zu den Spielen der Bundesliga gekommen, Mädchen haben angefangen Fußball zu spielen. Die Persönlichkeiten des WM-Teams 2003, und ich rede da nicht nur von mir, wurden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Bis zu dem, was wir heute an Sichtbarkeit und Reichweite erzielen, war es zwar noch ein längerer Weg. Allerdings hat dieser erste WM-Titel 2003 fortgeführt, was der erste EM-Titelgewinn 1989 angestoßen hatte: Den Frauenfußball auf eine größere Bühne zu heben. Und da waren ja auch noch die vier EM-Gewinne nach 1989. Nicht nur ich habe schon vor dem ersten WM-Titel Fußball gespielt. Der deutsche Frauenfußball war also auch schon vorher sehr erfolgreich und hat tolle Persönlichkeiten hervorgebracht.

Danach haben Sie als erste Frau den Weg ins Fernsehen als TV-Expertin gefunden. Wie kam dieses Engagement damals genau zustande? Welche Diskussionen gab es hinter den Kulissen und wie haben Sie den Rollenwechsel von der Spielerin zur Expertin erlebt?
Vor mir war tatsächlich Doris Fitschen ARD-Expertin, ich durfte also in große Fußstapfen treten. Doris hat auch hier den Weg geebnet, wie sie es bei vielen Themen im Frauenfußball für uns alle getan hat. Zunächst wurde ich von der ARD nur punktuell eingesetzt, da ich noch im Verein gespielt habe, später war ich dann bei allen Länderspielen und Turnieren der Frauen dabei. Natürlich hast du als Expertin die Aufgabe Dinge einzuordnen und auch kritisch zu betrachten, wenn es erforderlich ist. Das ist nicht immer einfach. Ich habe allerdings immer versucht, respektvoll und sachlich zu argumentieren und bin damit gut gefahren. Allen handelnden Personen konnte ich damals und heute guten Gewissens in die Augen schauen.
Sie sind für viele junge Spielerinnen ein Vorbild. Gab es in Ihrer eigenen Karriere Menschen, die Sie besonders geprägt haben? Und welche Eigenschaften möchten Sie heute als DFB-Sportdirektorin bewusst an die nächste Generation weitergeben?
Mein erstes Vorbild war Doris Fitschen, sie hat die gleiche Position gespielt und war damals eine herausragende Spielerin. Jede Person, die mich in meinem Leben begleitet hat, hat mich auf eine bestimmte Weise geprägt. Trainerinnen und Trainer, Mitspielerinnen, auch Eltern, klar. Ich versuche aus jeder Begegnung zu lernen und für mich Dinge mitzunehmen. Diese Begegnungen und Beziehungen beeinflussen natürlich die Persönlichkeitsentwicklung sehr.
Als Führungskraft, auch in meiner Rolle als Sportdirektorin im Umgang mit den Spielerinnen, möchte ich auf Augenhöhe agieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dabei ist es mir wichtig, authentisch zu bleiben und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Vertrauen ist für mich die Grundlage jeden Handelns. Man darf zudem keine Angst vor Entscheidungen haben, die ja durchaus auch unbequem sein können. Führung bedeutet für mich eben auch unmissverständliche Absprachen treffen, Entscheidungsfreude zu zeigen und Klarheit für alle Beteiligten.
Daneben ist ein ganz wichtiger Faktor für mich, und das kann ich wärmstens empfehlen, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, Humor zu zeigen und auch mal zu lachen; das hilft mir in vielen Lebenslagen. Übrigens auch als Spielerin. Im Leistungssport nimmt man sehr viel mit an prägenden Erfahrungen für die Zeit nach der aktiven Karriere: Resilienz, Führungsstärke, Teamgeist. Das sind alles Attribute, die dich auch im Alltag, sowie im Berufsleben stärken. Und dann kommt ja noch meine Zeit in der Nationalmannschaft hinzu: Die war etwas ganz besonders, diese Erfahrungen werden für immer bleiben.
Zum Abschluss: Wenn Sie auf Ihre bisherige Arbeit beim DFB blicken: welches konkrete Projekt oder welche Entscheidung würden Sie als Erfolgsmodell hervorheben, von dem auch Unternehmen lernen könnten, wenn es darum geht, Teams erfolgreich zu entwickeln?
Grundsätzlich: Ganz entscheidend ist, dass Erfolg nur im Team möglich ist. Ob nun im Sport oder anderen Bereichen. Ich komme da gerne wieder zurück auf den Teamsport: Da geht es eben nur gemeinsam, du wirst keine Siege feiern, keine Titel holen, wenn du dich nicht als Team commitest. Erfolg ist immer nur gemeinsam möglich.
Was meine Arbeit beim DFB angeht, gab es seit 2024 viele Veränderungen. Beginnend von dem neuen Trainerinnenteam der Frauen-Nationalmannschaft, über die Verjüngung der Mannschaft und einer veränderten Spielphilosophie. Wir haben die Herausforderung angenommen, junge Spielerinnen an die A-Mannschaft heranzuführen, haben durch die Einführung der neuen U 23-Mannschaft den Übergangsbereich entsprechend gestärkt. Das waren wichtige Weichenstellungen. Die U 23 hat die internationale Spielrunde gewonnen und sich gegen Top-Nationen durchgesetzt.
Mit der Frauen-Nationalmannschaft haben wir Olympia-Bronze geholt, bei der EM 2025 mit einer jungen und weitgehend Turnier unerfahrenen Mannschaft das Halbfinale erreicht und zählen damit zu den besten Vier in Europa. Dabei haben wir mit unserer leidenschaftlichen Spielweise eine große Begeisterung entfacht. Allein das Halbfinale haben 14 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor dem TV gesehen. Der Marktanteil betrug rund 60%. Das war ein großer Erfolg. Darüber hinaus stehen wir erneut im Final Four der Nations League, treffen im Herbst im Halbfinale auf Frankreich. Wir haben viel Rückenwind für diesen Weg der Erneuerung erhalten. Diesen Weg wollen wir weitergehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
